Claus Peter Müller von der Grün im Interview mit Jörg van der Heide
»Jagd, richtig ausgeübt, ist eine wesentliche Voraussetzung für einen stabilen Mischwald der Zukunft«, sagt Jörg van der Heide, Abteilungsleiter Forstbetrieb und Dienstleistung bei HessenForst sowie stellvertretender Leiter des Landesbetriebs. »Vor allem in der Phase der Wiederaufforstungnach den Schäden durch Sturm, Dürre und Borkenkäfer sind angepasste Wildbestände absolut erfolgsentscheidend. Sind sie nicht angepasst, muss notwendiger Weise jagdlich eingegriffen, sprich durch höhere
Abschüsse reduziert werden.« Denn der übermäßige Wildverbiss behindere oder verhindere die Entwicklung von klimastabilen Mischwäldern, wie sie die Forstwissenschaft empfehle und wie sie HessenForst anstrebe. »Die Pflicht zur Wiederbewaldung nach § 6 des Hessischen Waldgesetzes, die Grundpflichten des § 3 des Hessischen Waldgesetzes und die Grundsätze ordnungsgemäßer Forstwirtschaft stehen im Einklang mit den Vorgaben und Zielen des Hessischen Jagdgesetzes«, erläutert Jörg van der Heide. Ziel sei es nicht, einen möglichst zahlreichen, sondern einen gesunden und artenreichen Wildbestand zu erhalten und dabei die berechtigten Interessen der Land- und Forstwirtschaft zu beachten. Das heißt, die Jagd ist so auszuüben, dass übermässige Wildschäden vermieden werden und die wesentlichen Baumarten sich ohne Schutz verjüngen können. Daraus folge die Pflicht zur Regulation des Wildbestands, ohne die der notwendige Waldumbau und die Wiederbewaldung gar nicht, oder nur mit erheblicher Verzögerung und hohem finanziellen Aufwand zu erreichen seien.
Der Verbiss habe unmittelbare Auswirkungen auf die Bäume, aber auch auf den gesamten Lebensraum Wald. Zunächst mindere der Verbiss den Höhenzuwachs der Bäume und führe zum Verlust an Biomasse und Zuwachs. Besonders gefährdet seien Baumarten wie zum Beispiel Eichen, Edellaubbäume, Weißtanne und Douglasie, die im Waldumbau zum klimaresilienten Wald unverzichtbar seien.
Voraussetzung für den klimastabilen Wald seien ökologisch verträgliche, standortgerechte Kombinationen mehrerer Mischbaumarten und eine möglichst hohe Biodiversität. Der Verbiss mindere die Vielfalt an Baumarten, da er zum völligen Verschwinden – also zum flächigen Verlust – bestimmter Baumarten und damit zur Entmischung führen könne. Das Wild entmische den Wald regelrecht, und das Ziel des klimastabilen Waldes werde nicht erreicht. »Hinzu kommen weitere Auswirkungen auf die Konkurrenzverhältnisse der Baumarten untereinander und auf die Begleitvegetation, die eingehender wissenschaftlich untersucht werden«, schildert Jörg van der Heide.

Fichte) zu Vitalitäts- und Qualitätseinbußen. (Foto: T. Ullrich)
Allein schon der Umgang mit den großen, freien Waldflächen, die mit und nach den Stürmen entstanden seien, sei eine Herausforderung. Entwickelten sich diese Flächen schrittweise zu Dickungen, werden diese Flächen zu einem »Eldorado für wiederkäuendes Schalenwild und zu einem hervorragenden Wildeinstandsgebiet, um den Nachwuchs aufzuziehen«, warnt Jörg van der Heide. Diese Flächen müssten, rechtzeitig jagdlich erschlossen – also mit Jagdeinrichtungen versehen und durch Schneisen bejagbar gemacht – werden.
»Nun wird nicht mal eben so drauf los gejagt. Die Jagd auf wiederkäuendes Schalenwild, im Schwerpunkt sind das die Rehe und das Rotwild, erfolgt auf der Grundlage behördlich festgesetzter Abschusspläne«, stellt Jörg van der Heide klar. Die Abschussplanung berücksichtige die Ergebnisse des Vorjahres, die Entwicklung von Verbiss- und Schälschäden sowie die Befunde der von den Forstämtern erstellten forstlichen Gutachten. Die frischen Schälschäden werden in einem festgelegten Stichprobenraster erhoben und die jeweiligen Ergebnisse zu Schadprozenten auf Ebene eines Rotwildgebietes zusammengeführt. Als wirtschaftlich akzeptabel gilt eine Schadenquote bei Buchen von maximal 0,5 Prozent im Jahr und bei Fichten von höchstens 1,0 Prozent. »Das klingt wenig«, räumt Jörg van der Heide ein, »aber auf einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren betrachtet, heißt das, dass im Extremfall rechnerisch alle Bäume einmal von Schälschäden befallen worden sind. In Folge der Schälschäden kommt es zum Eindringen von Pilzen und damit zu Fäule. Das Holz verliert an Wert, und der Baum wird mitunter brüchig.« Die Schäden können Waldbestände destabilisieren und führten neben den ökologischen auch zu erheblichen wirtschaftlichen Vermögenschäden. Diese Aspekte müsse die jeweilige Untere Jagdbehörde bei der Festsetzung der vorgelegten Abschussplanvorschläge beachten und die verschiedenen Interessen der Grundeigentümer, Jäger, Förster, Landwirte und des Naturschutzes untereinander abwägen. »Am Ende wünschen wir uns für jeden Jagdbezirk einen transparent festgesetzten Mindestabschuss, der es uns erlaubt, die für den gewünschten Waldzustand nötigen Effekte zu erzielen«, schildert Jörg van der Heide seine Erwartungen an das Verfahren. Dies gelinge zunehmend besser und entwickele sich in die richtige Richtung. 2011 noch wurden bei HessenForst je 100 Hektar Wald 5,3 Rehe erlegt, 2012 waren es 6,5 und heute sind es fast 10. »Damit kommen wir in einen Bereich, in dem die Regulation überhaupt erst beginnt, wirksam zu werden«, beurteilt Jörg van der Heide die Entwicklung. Die Frage, warum dies gelinge, beantwortet er mit drei Gegenfragen: »Dürfen wir? Können wir? Wollen wir?« Und freilich sollten wiederum alle drei Gegenfragen in der Praxis mit einem »Ja« beantwortet werden.

Das »Dürfen« lege der Gesetzgeber fest. Dieser habe das Regelwerk (Jagdverordnung, SchalenwildRL) angepasst und die Bestimmungen über Jagd sowie Schonzeiten neu festgelegt. Früher durften z.B. Rehböcke nur zwischen dem 16. Mai und 15. Oktober bejagt werden, heute zwischen dem 1. April und dem 31. Januar des folgenden Jahres, nennt Jörg van der Heide ein Beispiel.
Das »Können« schließe das »Wissen« ein. Es gehe nicht nur um technische Innovationen wie den Einsatz von Wärmebildtechnik und Klettersitzen, sondern auch um die Berücksichtigung wildbiologischer und methodischer Erkenntnisse. Das Wissen auf dem aktuellen Stand zuhalten, bleibe eine Daueraufgabe. Heute werde das Konzept der Intervalljagd mit zeitlicher und räumlicher Schwerpunktbejagung im April und Mai, einer Pause im Juni und Juli, und einer Wiederaufnahme der Jagd im August verfolgt. Jagdeinrichtungen stehen nicht mehr nur an Schneisen und freien Flächen, die das Wild – weil hell und ohne Deckung – als Gefahr empfinde und schnell überquere, sondern an strukturreicheren Standorten, die dem Wild Sicherheit vermittelten und wo es langsamer ziehe. Die Bewegungsjagden haben sich nach Jörg van der Heides Worten in Ihrer Qualität ebenfalls erheblich weiterentwickelt. Anstatt menschlicher Treiber, die ein Gebiet einmal durchkämmen, werden heute Hunde eingesetzt, die die Fläche immer wieder großräumig und systematisch absuchen. Schon die Auswahl der Hunde und deren Zahl werde vor Beginn der Jagd bedacht.
Das »Wollen« spielt für Jörg van der Heide die vermutlich größte Rolle. Die Zahl der geforderten Abschüsse wurde kontinuierlich erhöht und Abschusspläne wurden großräumig in Gruppen oder ganzen Hegegemeinschaften zusammengefasst. »Vor allem aber«, beschreibt Jörg van der Heide den Wandel, »haben wir die Jagd mehr und mehr aus ihrem tradierten Wertemustern gelöst und sie von selbstgesetzten Beschränkungen befreit. Fragen wir uns heute, was unser Auftrag ist, so stellen wir
fest: unser Auftrag ist es, den Wald mit all seinen Wirkungen zu erhalten, den klimarobusten, stabilen Mischwald zu pflegen, zu schützen und zu entwickeln, ihn nachhaltig zu bewirtschaften. Dazu braucht es einen professionellen Jagdbetrieb auf fundierter wildbiologischer Grundlage und einen selbstkritischen Blick für die mit der Jagd selbst verbundenen Auswirkungen auf das Verhalten der Wildtiere im Ökosystem Wald, damit Wald mit Wild eine Zukunft hat «